Seit vielen Jahren wird in der Presse immer wieder darüber berichtet, dass Millionen von Überstunden in Deutschland Jahr für Jahr geleistet werden, bezahlt und unbezahlt. Nicht nur, aber auch gerade bei Führungskräften wird Mehrarbeit erwartet und ist im Regelfall arbeitsvertraglich so geregelt, dass Mehrarbeit in näher geregelten Grenzen mit der Arbeitsvergütung als abgegolten gilt.
Probleme mit der Darlegungs- und Beweislast
Davon abgesehen haben Arbeitnehmer sehr häufig das Problem, schon nicht darlegen, jedenfalls aber nicht beweisen zu können, tatsächlich mehr als die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit gearbeitet zu haben, auf Anordnung oder zumindest mit Genehmigung oder billigender Duldung durch den Arbeitgeber. Dies gilt insbesondere dann, wenn in Betrieben kein System zur Erfassung der Arbeitszeit vorhanden ist, das allgemein zugänglich, transparent und verlässlich die Arbeitszeiten der Mitarbeiter festhält und speichert.
Das Bundesarbeitsgericht hat in der Vergangenheit regelmäßig vertreten, ein Arbeitnehmer müsse im Normalfall darlegen und beweisen, über die vereinbarte Arbeitszeit hinaus auf Anordnung, mit Genehmigung oder zumindest Duldung des Arbeitgebers gearbeitet zu haben, um damit ggf. Differenzvergütung einfordern zu können.
Arbeitsgericht Emden vom 09.11.2020; 2 Ca 399/18
Mit einer in der arbeitsgerichtlichen Fachwelt kontrovers diskutierten Entscheidung hat das Arbeitsgericht Emden der Klage eines Arbeitnehmers mit der tragenden Begründung stattgegeben, die Arbeitgeberin müsse sich vorwerfen und entgegenhalten lassen, kein verlässliches und zugängliches sowie objektives Arbeitszeiterfassungssystem eingeführt zu haben, dann hätte der Arbeitnehmer seine Überstunden beweisen können. Das Arbeitsgericht Emden hat mit der Auslegung und Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EEG und einem Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 14. Mai 2019 argumentiert. Danach müssten die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen, daraus leitete das Arbeitsgericht Emden Modifizierungen der Darlegungslast im Überstundenvergütungsprozess ab, weil es sich nach Auffassung des Arbeitsgerichtes Emden nicht nur um eine Aufforderung zur Umsetzung einer Richtlinie an Mitgliedsstaaten handele, sondern geltendes höherrangiges Recht, das damit Einfluss auf die Darlegungs- und Beweislast hätte.
Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen sowie dem folgend das Bundesarbeitsgericht mit jetziger Entscheidung vom 04.05.2022, 5 AZR 359/21 haben dies anders beurteilt und sind auf der Linie bisheriger Rechtsprechungen des Bundesarbeitsgerichts geblieben. Das Bundesarbeitsgericht hat hierzu ausgeführt, die genannte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes regele Aspekte der Arbeitszeitgestaltung im Sinne eines Schutzes von Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer, sei allerdings nicht maßgeblich für die Beurteilung von Ansprüchen im Gegenseitigkeitsverhältnis zwischen Arbeitsleistung und Vergütung. Eine unionsrechtlich begründete Pflicht zur Messung der täglichen Arbeitszeit habe daher, so das Bundesarbeitsgericht, keine Auswirkung auf die Grundsätze, die nach deutschem materiellen Recht und Prozessrecht zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess entwickelt worden seien.
BAG: Keine Erleichterungen für Arbeitnehmer im Überstundenprozess
Fehlt es demgemäß an einer betrieblichen Einrichtung zur Erfassung der Arbeitszeit, kommt dies dem Arbeitnehmer regelmäßig nicht zugute, abgesehen von spezialgesetzlich geregelten Sachverhalten, wie beispielsweise bei einer Beschäftigung im Straßentransport gem. § 21a Abs. 7 ArbZG. Dort ist geregelt, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, die Arbeitszeit der Arbeitnehmer bei einer Beschäftigung im Straßentransport aufzuzeichnen, mit einer zweijährigen Aufbewahrungspflicht. Weiter regelt § 21a Abs. 7 S. 3 ArbZG ausdrücklich einen Anspruch des Arbeitsnehmers, eine Kopie der Aufzeichnung seiner Arbeitszeit ausgehändigt zu erhalten.
Außerhalb dieser und anderer spezialgesetzlicher Regelungen bleibt es bis auf Weiteres nach jetziger Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes bei der generellen Verteilung der Darlegungs- und Beweislast, somit auch fortbestehenden Schwierigkeiten eines Arbeitnehmers, geleistete Mehrarbeit substantiiert darzulegen und im Streitfall beweisen zu können.
Ausblick: Umsetzung der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung zu erwarten
Bisher regelt lediglich § 16 ArbZG, dass Arbeitszeit dokumentiert werden muss, die die reguläre tägliche Arbeitszeit von acht Stunden übersteigt. Eine generelle Pflicht ist mangels Umsetzung der EU-Richtlinie bisher nicht geregelt worden. Der Europäische Gerichtshof hat diesbezüglich keine Frist gesetzt. Arbeitsrechtler sind sich allerdings weitgehend darin einig, dass kurz- bis mittelfristig Rechtsgrundlagen auch nach deutschem Recht geschaffen werden, die Arbeitgeber dann zwingen werden, für eine Erfassung und Dokumentation geleisteter Arbeitszeiten Sorge zu tragen.
Für Arbeitgeber wird es daher umso wichtiger sein, vertraglich wirksame Regelungen zu vereinbaren, die beispielsweise die pauschale Abgeltung von Mehrarbeit im bestimmten Umfang vorsehen, oder aber auch klare betriebliche Regelungen dazu, unter welchen Voraussetzungen Mehrarbeit geleistet werden darf oder muss.
Arbeitnehmern kann bis auf Weiteres nur geraten werden, bei regelmäßig anfallender Mehrarbeit ohne betriebliche Arbeitszeiterfassung die tägliche Arbeitszeit penibel und genau mindestens zu dokumentieren, am besten minutengenau und unter Abzug von Pausen. Diese Arbeitszeiterfassung kann den Vorgesetzten in regelmäßigen Abständen zur Abzeichnung vorgelegt werden.