Wenn in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung in den letzten Jahren neue Tendenzen oder gar Änderungen der Rechtsprechung erfolgt sind, dann betraf dies insbesondere das gesamte Urlaubsrecht eine insoweit bisher in Deutschland noch nicht höchstrichterlich entschiedene Frage hat das Bundesarbeitsgericht nun am 20.12.2022 geklärt, nach Vorgaben des Europäischen Rechtes und einer diesbezüglich bereits den Weg weisenden Vorabentscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 22.09.2022. Im Kern stand die Frage, wann, bzw. ob Urlaub überhaupt verfällt, wenn Urlaub über längere Zeit im Arbeitsverhältnis nicht oder nicht vollständig genommen worden ist.
Bisher: Verfall von Urlaub spätestens 15 Monate nach Urlaubsjahr
Nach früherer Rechtsprechung gingen deutsche Arbeitsgerichte mit dem Bundesarbeitsgericht davon aus, dass mit dem 31.03. des übernächsten Jahres nach dem eigentlichen Urlaubsjahr Ansprüche verfallen, sofern diese bis dahin nicht fällig geworden sind. War also ein Arbeitnehmer in einem rechtlich noch bestehenden Arbeitsverhältnis mehrere Jahre krank, ohne dass das Arbeitsverhältnis geendet hat, dann verfielen Ansprüche auf Urlaub 15 Monate nach Beendigung des Urlaubsjahres. Ein Arbeitsnehmer, der beispielsweise von Anfang 2018 bis Ende 2020 durchgehend arbeitsunfähig krank war, verlor damit auf bisheriger Grundlage mit dem 31.03.2022 auch noch seinen Urlaubsanspruch aus 2020, ohne für den Fall einer Rückkehr in das Arbeitsverhältnis nach Genesung oder bei einer rechtlichen Beendigung beispielsweise im Herbst 2022 noch einen finanziellen Ausgleich für nicht genommenen Urlaub verlangen zu können. Maßgeblich hierfür ist § 7 Abs. 3 BUrlG, der regelt, dass Urlaub grundsätzlich im laufenden Urlaubsjahr genommen werden muss, bzw. innerhalb eines zulässigen Übertragungszeitraumes, § 7 Abs. 3 S 1 und 3 BUrlG.
EuGH: Urlaubsverfall nur bei erteiltem Hinweis
Der Europäische Gerichtshof hat schon im November 2018 zunächst entschieden, dass der Arbeitgeber sich auf den gesetzlich angeordneten Verfall von Urlaubsansprüchen nach § 7 Abs. 3 BUrlG nur dann berufen können, wenn der Arbeitnehmer rechtzeitig vor dem Urlaubsverfall auf die entsprechende Gefahr hingewiesen und aufgefordert wird, Urlaub tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Der Europäische Gerichtshof hat schon 2018 festgestellt, dass insoweit eine Verpflichtung des Arbeitgebers besteht, aktiv zum Schutz der Arbeitnehmer darauf hinzuwirken, dass Urlaub auch tatsächlich genommen wird, anderenfalls verfällt der gesetzlich vorgeschriebene Mindesturlaub im Umfang von vier Wochen nicht. Der nicht verfallende Urlaub tritt in solchen Fällen zum Urlaubsanspruch des (jeweiligen) Folgejahres hinzu.
EuGH: Verjährung nicht verfallener Ansprüche?
Damit blieb allerdings noch offen, ob über mehrere Jahre insoweit nicht vollständig genommene und angewachsene Urlaubsansprüche gemäß § 195 BGB drei Jahre nach Ablauf des Urlaubsjahres verjähren. Im rechtlichen Streit stand die insoweit geregelte Verjährung von Ansprüchen, die mit dem Schluss des Jahres beginnt, in dem der Anspruch entstanden ist, in Abgrenzung zum europarechtlich geregelten Arbeitnehmer- und Gesundheitsschutz von Arbeitnehmern, Art. 31 der Grundrechte Charta.
Auf dieser Grundlage hat das Bundesarbeitsgericht schon im September 2020 den Europäischen Gerichtshof per Vorlagebeschluss angerufen, dieser hat dann am 22.09.2022 entschieden und im Wesentlichen Festgehalten, dass der europarechtlich garantierte Schutz von Arbeitnehmerrechten und der Zweck des Urlaubsrechtes hier Vorrang vor nationalen Verjährungsvorschriften hätten.
Urteil des BAG vom 20.12.2022
Nach Klärung der Rechtsfrage aus dem Vorlagebeschluss hat nunmehr das Bundesarbeitsgericht am 20.12.2022 entschieden und sich erwartungsgemäß der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes angeschlossen. Mit der 2018 eingereichten Klage machte die Klägerin restliche Urlaubsabgeltung im Umfang von 101 Arbeitstagen aus dem Zeitraum 1996 bis 2017 geltend, zweitinstanzlich hatte die Klägerin mit dem Abgeltungsanspruch für immerhin 76 Arbeitstage Erfolg. Die Revision des Arbeitgebers hatte vor dem Bundesarbeitsgericht keinen Erfolg, weil auch das Bundesarbeitsgericht mit dem Landesarbeitsgericht feststellte, die Einrede der Verjährung greife nicht durch. Nach jetziger Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichtes beginnt die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren bei einer richtlinienkonformen Auslegung des § 199 Abs. 1 BGB erst mit dem Schluss des Jahres, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen habe. Der Arbeitgeber habe die Möglichkeit, Verjährungsfristen in Gang zu setzen, wenn er eigenen Obliegenheiten gegenüber dem Arbeitnehmer nachkommt, durch unmissverständliche Hinweise zum restlichen Urlaubsanspruch und dessen drohenden Verfall, wenn dieser nicht in Anspruch genommen werde.
Folgen des BAG-Urteils für Verfall und Verjährung
Das jetzige Urteil des Bundesarbeitsgerichtes vom 20.12.2022 hat weitreichende Folgen und Konsequenzen sowohl für Unternehmen, wie auch dort beschäftigte Mitarbeiter und frühere Mitarbeiter. Arbeitgeber, die bisher im Vertrauen auf den Verfall von Ansprüchen jedenfalls 15 Monate nach dem Ende eines Urlaubsjahres keinen Handlungsdruck hinsichtlich der Beendigung langjährig gestörter Arbeitsverhältnisse mit seit Jahren erkrankten Arbeitnehmern gesehen haben, werden dies nun überdenken und neu bewerten müssen. Vor allem zeigt die jetzige Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes, welche Konsequenzen es haben kann, wenn ein Arbeitgeber der Obliegenheit, unmissverständlich auf eine Inanspruchnahme von Urlaub im Urlaubsjahr hinzuwirken, nicht gefolgt ist. Insoweit wird nochmals auf obige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes verwiesen, die seit entsprechendem Urteil des EuGH vom 06.11.2018 gilt und bekannt ist. Der EuGH hat seinerzeit gefordert, dass ein Arbeitgeber bei der Erfüllung seiner Mitwirkungsobliegenheit den Arbeitnehmer auf einen konkret bezeichneten Urlaubsanspruch eines bestimmten Jahres hinweisen muss, mit völliger Transparenz habe der Arbeitgeber den Arbeitnehmer entsprechend zu unterrichten, regelmäßig in Textform. Abstrakte Angaben etwa in einem Arbeitsvertrag, einer Kollektivvereinbarung oder auch in einem Merkblatt würden in der Regel nicht genügen, es bedarf einer auf den Einzelfall und jeweiligen Urlaubsanspruch bezogenen Belehrung des Arbeitgebers. Dies dürfte nur in wenigen Unternehmen tatsächlich seither umgesetzt worden sein.
Zahlungsansprüche wegen Urlaub auch für Vergangenheit
Sprengstoff gewinnt die Entscheidung auch dadurch, dass nach jetziger Rechtsprechung davon auszugehen sein wird, dass auch bereits ausgeschiedene Mitarbeiter eines Unternehmens noch Ansprüche geltend machen könnten, mit Erfolgsaussicht. Ist ein Arbeitnehmer beispielsweise 2021 nach mehrjähriger Erkrankung aus einem Unternehmen ausgeschieden, beispielsweise nach Gewährungen von Altersrente oder auch einer Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung, ohne dass Urlaub (vollständig) gewährt oder abgegolten worden ist, dann werden nunmehr Zahlungsansprüche des Arbeitnehmers in Betracht kommen. Geht man mit dem EuGH davon aus, dass Verjährungsfristen in Bezug auf Ansprüche aus § 7 Abs. 3 BUrlG erst durch Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers überhaupt in Gang gesetzt werden, dürften selbst Ansprüche aus seit mehr als drei Jahren beendeten Arbeitsverhältnissen weiterhin realistisch sein, soweit der Arbeitgeber seine Hinweispflichten nicht erfüllt hat.
Arbeitgebern wird insoweit zu raten sein, zum einen die Praxis zur Mitwirkung bei der Urlaubsgewährung zu überprüfen und in transparenter und vor allem auch nachweisbarer Art und Weise auf die Inanspruchnahme von Urlaub im jeweiligen Urlaubsjahr hinweisen.
Arbeitnehmern, die im noch bestehenden oder auch beendeten Arbeitsverhältnis Urlaub nicht vollständig in Anspruch genommen haben oder nehmen konnten, aus welchen Gründen auch immer, wird zu raten sein, auf obiger Grundlage die Prüfung und Bewertung noch bestehender Urlaubsansprüche oder aber deren Abgeltung vorzunehmen oder vornehmen zu lassen. Abschließend wird darauf hingewiesen, dass nach aktueller Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes dieser zudem festgestellt hat, dass der Urlaubsanspruch eines Arbeitnehmers nicht mit dessen Tod erlischt, vielmehr auch Erben eine finanzielle Ausgleichszahlung verlangen können. Dies soll nach dem EuGH sowohl für Urlaub gelten, der bei bestehendem Arbeitsverhältnis wegen des Todes des Arbeitnehmers nicht mehr genommen werden konnte, wie auch für Urlaubsabgeltungsansprüche eines bereits ausgeschiedenen Arbeitnehmers.